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Alicia Burns: Das scheint auf den ersten Blick ein großer Sprung zu sein, im wahrsten Sinne des Wortes. Bei Science of Intelligence beschäftigen wir uns unter anderem mit kollektiver Intelligenz, der Idee, dass einige Gruppen bessere Problemlöser sind als einzelne Individuen. Und Tiere sind darin sehr gut!
Auf dem Motiv sehen Sie einen gestreiften Marlin, einen der schnellsten und größten Fische im Ozean. Marline müssen zusammenarbeiten, um Sardinen zu treiben, aber sie konkurrieren auch um Nahrung, und wenn zwei von ihnen gleichzeitig angreifen, könnten sie sich ernsthaft verletzen. Sie müssen also einen Weg finden, dieses Problem des gleichzeitigen Kooperierens und Konkurrierens zu lösen.
Burns: Von Drohnen aus haben wir ein faszinierendes Phänomen beobachtet: Marline leuchten auf, wenn sie angreifen, indem sie bestimmte Hautzellen exponieren, die hellblaues Licht reflektieren – das Ergebnis sind die Streifen, die dem gestreiften Marlin seinen Namen geben. Diese Streifen verwirren möglicherweise nicht nur die Sardinen, sondern signalisieren auch den anderen Marlinen ihre Absicht anzugreifen. Ohne es zu wissen, sagen sie: „Jetzt bin ich dran, aus dem Weg!“ – eine elegante und intelligente Lösung für ein kollektives Jagdproblem.
Palina Bartashevich: Ja, die Sardinen entkommen einem angreifenden Marlin, indem sie sich vor dem Schwertfisch in zwei Gruppen aufteilen und in einem Bogen hinter den Angreifer schwimmen. Dies wird als Fontänen-Effekt bezeichnet. Damit ein Schwarm dies erfolgreich durchführen kann, müssen die einzelnen Fische nur ein paar einfache Regeln befolgen. Wichtig ist, dem Angreifer in einem Winkel von etwa 30 Grad auszuweichen.
Bartashevich: Ganz genau. Das ist kollektive Intelligenz. Es geht nicht darum, wie sich das einzelne Individuum verhält, sondern wie die Gruppe als eine Einheit intelligent agiert, ohne das große Ganze zu kennen.
Der beobachtete Fluchtwinkel stimmt mit dem Winkelbereich überein, in dem Fische wie Sardinen rückwärts sehen können. Mit anderen Worten: Die Fische wollen so weit wie möglich von ihrem Verfolger wegkommen, ihn aber gleichzeitig im Auge behalten und in der Nähe ihrer Artgenossen bleiben.
Burns: Wir beginnen damit, intelligentes Verhalten in biologischen Systemen, also in der „Wildnis“ zu untersuchen, in unserem Fall bei Fischen vor der Pazifikküste Mexikos.
Bartashevich: Um ihr Verhalten besser zu verstehen, bauen wir es „nach“, indem wir Computermodelle der beobachteten Phänomene entwickeln und dann testen wir diese in der realen Welt auf robotischen Plattformen.
David Mezey: Das verschafft uns einen großen Vorteil, weil wir Dinge testen können, die allein durch Beobachtungen in der Natur nicht möglich wären. Wir können zum Beispiel ändern, wie viele Fische oder Raubtiere Teil der Gruppe sind, wie schnell sie schwimmen, wie sie interagieren, und wir können untersuchen, wie solche Änderungen das beobachtete kollektive Verhalten beeinflussen.
Bartashevich: Spannend an so einem interdisziplinären Ansatz ist, dass er neue Perspektiven aus verschiedenen Blickwinkeln ermöglicht. Informatiker*innen und Robotiker*innen nutzen ihre Modelle, um die Ideen der Biolog*innen zu überprüfen. Dies führt oft zu neuen Hypothesen, die Biolog*innen in der Natur verifizieren können, was einen ständigen Austausch von Ideen in einer Art Loop schafft. Und natürlich bedeutet das Arbeiten über die Disziplinen hinweg für mich als Informatikerin auch eine ungewöhnliche Arbeitsroutine, weil ich bei den Exkursionen mit an Bord war.
Burns: Die Verhaltensweisen der Fische sind hochentwickelt – ein klassisches evolutionäres Wettrüsten zwischen Räuber und Beute, bei dem sowohl die Sardinen als auch der Marlin ständig versuchen, sich gegenseitig zu übertreffen. Indem wir diese Phänomene in ihre Bestandteile zerlegen, können wir beginnen, die Bausteine des intelligenten Verhaltens zu entschlüsseln, die dann andere Systeme informieren können.
Bartashevich: Wir könnten beispielsweise in der Zukunft zum Bau von Robotern und künstlichen Systemen beitragen, die in für Menschen gefährlichen Bereichen gemeinsam Aufgaben erfüllen können. Oder wir können fundiertere Antworten darauf geben, wie man Panikausbrüchen bei Massenveranstaltungen mit einfachen Mitteln begegnen kann. Uns ist es wichtig, bei Science of Intelligence all diese Phänomene ganzheitlich zu untersuchen.
Mezey: Solche Szenarien basieren eben auf der sehr grundlegenden Frage, wie und wann es menschlichen Gruppen gelingt, sich kollektiv an unterschiedliche Umstände anzupassen. Wenn wir verstehen, wie sich individuelle Entscheidungen auf das Gruppenverhalten auswirken, können wir potenziell dazu beitragen, effektivere Systeme zu entwickeln, die der Gesellschaft beispielsweise in den eben beschriebenen Szenarios zu Gute kommen.
Bartashevich: Genau, dafür haben wir uns an unseren Kollegen David gewandt, der sich auf Roboterschwärme spezialisiert hat. Gemeinsam erarbeiteten wir einen Plan, um die Computer-Modelle in der realen Welt zu testen.
Mezey: Bei der Prüfung und Entdeckung neuer Phänomene aus biologischen Daten ist es entscheidend, diese auch in die reale Welt und physische Systeme mit ähnlichen Einschränkungen wie bei den Tieren zu übertragen. Fische können sich beispielsweise nur so schnell bewegen oder drehen, wie es das Wasser und ihre Körper zulassen, im Gegensatz zu simulierten Fischen. Reale Anwendungen können unvorhergesehene Herausforderungen aufdecken, denen ein verkörpertes System, sei es Tier oder Roboter, immer begegnen muss, beispielsweise ungünstige Lichtverhältnisse oder Oberflächentexturen. So kann das Studium des Roboter-Verhaltens auch das Verständnis des Verhaltens bei Tieren fördern.
Mezey: Um die Herausforderung zu meistern, zwei miteinander interagierende Roboterschwärme abzubilden, haben wir ein Augmented Reality-System entwickelt. In einer großen Arena wird der simulierte Fischschwarm auf den Boden projiziert. Dieser verhält sich so wie in der Natur, da er auf Palinas Algorithmen basiert. Nun können Menschen oder Roboter mit dem projizierten Fischschwarm als Raubtiere interagieren und versuchen, die Fische zu fangen. Diese reagieren in Echtzeit und erzeugen in einigen Fällen den Fontänen-Effekt. Erfolgsversprechende Muster, die in allen Systemen vorkommen, könnten dann allgemeine Prinzipien der kollektiven Intelligenz aufdecken. Ich werde bald einen Kurs an der TU Berlin betreuen, in dem Studierende die Grundlagen der Modellierung kollektiven Verhaltens erlernen und ihre Modelle dann auch in unserer Arena umsetzen können.
Bartashevich: Unser System bildet eine fantastische Grundlage für die Überprüfung der Modelle. Es war schwierig, das Verhalten eines Raubtiers, das einen einzelnen Fisch von der Gruppe trennt, in der Simulation zu reproduzieren, bis der Roboter es erfolgreich tat.
Mezey: Zum Beispiel, dass es viel einfacher ist, die projizierten Fische zu fangen, wenn man sie zu zweit jagt. Kein Wunder, dass Marline in Gruppen jagen!
Mezey: Ja, und deswegen eignet sich unser System nicht nur für unsere Experimente, sondern auch als Werkzeug zur Wissenschaftskommunikation. Unsere interaktive Arena ermöglicht es unseren Besucher*innen, eng mit den Simulationen zu interagieren und tief in die Forschung einzutauchen. Ganz wortwörtlich!
Frau Burns, Frau Bartashevich, Herr Mezey, vielen Dank für das Interview!
Fische, Roboter, Kakadus: Weitere Forschungsprojekte des Exzellenclusters Science of Intelligence →