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Mathematik für eine bessere Zukunft


Wie Simulationen von Millionen synthetischer Menschen die Verkehrswende beschleunigen können

Wir leben in einer Zeit großer Transformationen – der nachhaltige Wandel der Mobilität ist eine von ihnen. Wer daran forscht, muss sich mit komplexen, gesellschaftlichen Systemen, technologischen und politischen Aspekten, unterschiedlichen Interessen und vielen anderen Variablen auseinandersetzen.

Wie kann man diese Komplexität in den Griff bekommen? Zu Hilfe kommt hier eine Methode mit sperrigem Namen: die agenten-basierte Modellierung. Hier geht es nicht um Spione, sondern um mathematische Modelle, die das Verhalten vieler einzelner Akteur*innen, sogenannter Agenten, simulieren und untersuchen, wie sich deren Interaktion auf ein Gesamtsystem auswirkt.

Diese Art von anwendungsorientierter Mathematik ist eine der genutzten Methoden des Berliner Exzellenzclusters MATH+. Das Ziel ist es, in diesem Bereich neue Ansätze zu entwickeln – über Institutionen und Disziplinen hinweg.

Dr. Sarah Wolf (FU Berlin) und Prof. Dr. Kai Nagel (TU Berlin) forschen bei MATH+ zu agenten-basierten Modellen und sind damit sowohl in Schulklassen als auch bei Entscheidungsträger*innen gefragt. Ihre Arbeit ist ein inspirierendes Beispiel der Forschung im offenen Wissenslabor Berlin, die nicht hinter verschlossenen Türen, sondern im Austausch mit den Menschen der Stadt stattfindet!

Das Kampagnenmotiv von MATH+: Der "Mathe-Agent", ursprünglich dem Comic "Ida und der Mathe-Agent" entsprungen, verkörpert ein mathematisches Modell. Hier mit Sarah Wolf und Kai Nagel am Potsdamer Platz. © BUA

Das Kampagnenmotiv von MATH+: Der "Mathe-Agent", ursprünglich dem Comic "Ida und der Mathe-Agent" entsprungen, verkörpert ein mathematisches Modell. Hier mit Sarah Wolf und Kai Nagel am Potsdamer Platz. © BUA

Frau Wolf, Herr Nagel, auf dem Kampagnenmotiv von MATH+ sitzt auf der historischen Ampel am Potsdamer Platz ein Mathe-Agent und muss sich zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln entscheiden. Warum eigentlich keine Agentin?

Sarah Wolf: Für mich ist Agent ein neutrales Wort, so wie Tisch. Denn unsere Agenten sind mathematische Elemente beziehungsweise Objekte im Computer. Sie können ganz unterschiedliche Rollen einnehmen.

Kai Nagel: In der mathematischen Sprache ist Agent die Beschreibung einer handelnden Person, die einen inneren Zustand besitzt und bestimmten Verhaltensregeln folgt. Mit einer Vielzahl solcher Agenten können wir letztlich im Computer eine Gesellschaft simulieren, innerhalb bestimmter Grenzen natürlich.

Welche Eigenschaften kann so ein Agent haben?

Wolf: Ein Kollege erklärt das Schulklassen immer so: Die Schuhgröße und der Lieblingsfilm sind nicht wichtig, wenn es um Mobilität geht, aber Alter, Einkommen, Wohn- und Arbeitsort, Gesundheit und sogar politische Einstellungen.

Sie arbeiten auch mit Schulklassen?

Wolf: Ja, bei uns sind die Agentensimulationen mit einem Element der Bürger*innenbeteiligung verknüpft, beispielweise für Schulen. Der Fachausdruck dafür ist Transdisziplinarität, aber das Schlagwort „offenes Wissenslabor“ der BUA-Kampagne wäre auch sehr treffend.

Nagel: Wir veranstalten Workshops, in denen die Menschen politische oder administrative Entscheidungen selbst treffen und sich sofort danach durch unsere Simulationen die Auswirkungen dieser Entscheidungen anschauen können. Unser Thema ist dabei die Verkehrsplanung.

Ziel dieser Workshops kann es sein, Ideen zu bekommen, etwa für neue Maßnahmen. Ein anderes Ziel kann sein, den wirklichen politischen Entscheidungsträger*innen Pakete von Maßnahmen an die Hand zu geben, die eine große Mehrheit an Personen in unseren Workshops befürwortet haben.

Covid-Infektionsausbreitung in Berlin anhand eines Simulationsmodells (MATSim-EpiSim): Wohnort der individuellen Bewohner, farblich markiert nach ihrem Infektionsstatus im Zeitverlauf. © Kai Nagel

Covid-Infektionsausbreitung in Berlin anhand eines Simulationsmodells (MATSim-EpiSim): Wohnort der individuellen Bewohner, farblich markiert nach ihrem Infektionsstatus im Zeitverlauf. © Kai Nagel

Während der Corona-Pandemie waren die Ergebnisse Ihrer Simulationen ja schon Grundlage von politischer Entscheidungsfindung, Herr Nagel.

Nagel: Ja, mein Fachgebiet an der TU Berlin simuliert das Mobilitätsverhalten der Menschen unter anderem anhand von anonymisierten Mobilfunkdaten mit Hilfe von Agentensystemen.

Während der Corona-Zeit konnten wir damit sehen, wie oft sich die Menschen treffen, wie sie öffentliche Verkehrsmittel nutzen und so weiter. Daraus haben wir sowohl die Ansteckungsraten abgeschätzt wie auch die wahrscheinlichen Auswirkungen von Corona-Schutzmaßnahmen.

In diesem Kontext haben wir mit dem MATSim-EpiSim-Modell, das epidemische Ausbrüche simulieren kann, eine interaktive Visualisierung für ein mögliches Ausbruchsszenario erstellt: einen 90 Tage-Zeitraffer, der den Wohnort der individuellen Bewohner und ihren Infektionsstatus im Zeitverlauf abbildet.

„Decision Theatre“ mit vier großen Bildschirmen. Hier werden die Auswirkungen der Maßnahmen-Entscheidungen nach den Gruppendiskussionen abgebildet, wie z.B. Emissionszunahme oder -reduzierung. © Beate Rogler / MATH+

„Decision Theatre“ mit vier großen Bildschirmen. Hier werden die Auswirkungen der Maßnahmen-Entscheidungen nach den Gruppendiskussionen abgebildet, wie z.B. Emissionszunahme oder -reduzierung. © Beate Rogler / MATH+

Wie laufen nun Ihre Workshops genau ab?

Wolf: Kai Nagel und ich verwenden etwas unterschiedliche Formate. Bei mir ist es das sogenannte Decision Theatre, das ursprünglich in den USA entwickelt wurde. Bei uns diskutieren 15 bis 30 Personen in Kleingruppen zehn verschiedene Optionen für eine Mobilitätswende in Deutschland. Rein politische Maßnahmen wie etwa Verbote, aber auch mögliche Investitionen sowie Einschätzungen über zukünftige Entwicklungen.

Konkret müssen sich die Teilnehmer*innen zum Beispiel entscheiden, machen wir den öffentlichen Nahverkehr preiswerter, oder investieren wir lieber in Ladestationen für Elektroautos. Und was denken wir: Werden die bald billiger? Können wir durch Digitalisierung leichter den öffentlichen Nahverkehr und Leihfahrzeuge kombinieren?

Die Gruppen müssen eine Auswahl treffen durch Beantwortung von Fragen auf einem Tablet. Dann betrachten wir die entsprechenden Ergebnisse unserer Agentensimulationen mit diesen unterschiedlichen Eingaben und können im Plenum die Auswirkungen diskutieren.

Wir werfen also einen Blick in verschiedene mögliche Zukünfte, die den Teilnehmenden teils überraschende Folgen ihrer Entscheidungen aufzeigen. Etwa wenn durch Zuschüsse für Elektroautos der öffentliche Nahverkehr nicht mehr genutzt wird, weil jetzt auch ökologisch bewusste Menschen sich ein Auto kaufen.

Müsste man solche Workshops nicht verpflichtend in die Arbeit des Bundestages integrieren, das würde doch viele Fehler verhindern?

Wolf: Das wäre natürlich spannend. Ich muss aber betonen, dass wir nicht wie mit einer Glaskugel die Zukunft vorhersagen können. Bei den Diskussionen im Plenum geht es eher darum, dass die Menschen erkennen, dass die Dinge komplex miteinander zusammenhängen, es keine einfachen Lösungen gibt. Außerdem müssen alle ihre Argumente auf den Tisch legen, und oft wird dabei klar: Wir wollen eigentlich das Gleiche, haben aber verschiedene Vorstellungen, wie die Welt funktioniert.

Comic zum Thema „Decision Theatre“: „Ida und der Mathe-Agent oder eine Geschichte vom Modellieren der Mobilität von Morgen“, von Sarah Wolf et al., gezeichnet von Alberto Madrigal

Comic zum Thema „Decision Theatre“: „Ida und der Mathe-Agent oder eine Geschichte vom Modellieren der Mobilität von Morgen“, von Sarah Wolf et al., gezeichnet von Alberto Madrigal

Wie unterscheidet sich Ihre Methode, Herr Nagel, von der des Decision Theatres?

Nagel: Wir führen sogenannte Bürger*innengutachten zu Transformationsszenarien von Mobilität durch. Der Ablauf ist ähnlich wie beim Decision Theatre, allerdings beschränken wir uns auf den Verkehr in der jeweiligen Region, können dafür aber genauere Simulationen durchführen. Zudem versuchen wir es so einzurichten, dass die Teilnehmenden ein breites Spektrum der Gesellschaft repräsentieren.

Welche Ergebnisse gab es bei diesen Bürger*innengutachten?

Nagel: Einerseits große Einigkeit. So unterstützen mehr als 90 Prozent der Teilnehmenden das Ziel eines nicht-fossilen Verkehrs bis 2045. Mehr als 80 Prozent sprechen sich auch für das Verursacherprinzip aus. Wenn es aber konkret um Maut oder teurere Anwohnerparkausweise geht, sinkt die Zustimmung auf unter 50 Prozent ab.

Können Sie aus den Bürger*innengutachten konkrete Empfehlungen ableiten?

Nagel: Ein Ergebnis ist, dass der kommerzielle Verkehr auf technischem Wege CO2-frei gemacht werden kann, und dies auch gar nicht stark umstritten ist – hier könnte also schneller vorangegangen werden.

Kontrovers ist vor allem der Bereich des privaten Personenverkehrs. Hier finden sogenannte Pull-Maßnahmen wie der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs oder der Radwege breite Unterstützung, werden aber bei weitem nicht ausreichen, um den privaten Personenverkehr CO2-frei zu machen.

Falls „nur“ CO2-Freiheit erreicht werden soll, müssten zusätzlich die Antriebe der vielen verbleibenden Fahrzeuge dekarbonisiert werden; falls gleichzeitig die Anzahl der Autos im Stadtgebiet deutlich reduziert werden soll, kommen wir in allen Simulationsläufen um Push-Maßnahmen wie Verbote, Einschränkungen oder Verteuerungen nicht herum.

Verkehrsverlauf in Berlin: Tagesplan einer synthetischen Person in orange, Positionen anderer Fahrzeuge in grün und rot, sowie die NOx-Belastungen (Stickoxide) auf den unterschiedlichen Kanten (in grau). © Kai Nagel / TU Berlin, VSP

Verkehrsverlauf in Berlin: Tagesplan einer synthetischen Person in orange, Positionen anderer Fahrzeuge in grün und rot, sowie die NOx-Belastungen (Stickoxide) auf den unterschiedlichen Kanten (in grau). © Kai Nagel / TU Berlin, VSP

Mit welchen Eigenschaften und Interessen schicken Sie die synthetischen Menschen in die Simulation?

Wolf: Unsere Agenten möchten ihren Nutzen aus der Mobilitätswahl maximieren und betrachten dabei zum Beipiel die Faktoren Geld und Bequemlichkeit. Sie tauschen mit anderen Agenten Informationen über den Nutzen der verschiedenen Verkehrsmittel aus.

Nagel: Bei uns bekommt jeder Agent einen Tagesplan mit Zielen, die er erreichen möchte. Also zur Arbeit fahren, Einkaufen, abends ins Sportstudio oder sich mit Freunden treffen – wie bei richtigen Menschen. Diese Agenten werden dann auf virtuellen Stadtplänen platziert und bekommen jeweils Arbeitsorte und so weiter zugeordnet. Ihr Verkehrsmittel wählen sie nach Kriterien wie Zeitaufwand und Kosten, und auch die Verkehrsmittel selbst spielen eine aktive Rolle, so kann es zum Beispiel Staus im Modell geben, wenn zu viele Fahrzeuge auf einer Straße sind.

Woher kommen die ganzen Daten dazu, wie sich die Menschen verhalten?

Nagel: Tatsächlich besteht Verkehrsplanung zu einem großen Teil aus empirischer Sozialforschung. Seit Jahrzehnten werden Daten zusammengetragen, es gibt Umfragen mit Zehntausenden von Menschen, Verkehrszählungen, Einwohner- und Firmenregister, psychologische Studien. Überprüfen können wir unsere Modelle dadurch, dass wir in ihrer synthetischen Welt die Voraussetzungen für bereits gut untersuchte Effekte schaffen und schauen, ob diese reproduziert werden.

Sie sind beide Mitglieder im Exzellenzcluster MATH+. Wo müssen Sie bei Ihrer Forschung besonders knifflige mathematische Probleme lösen?

Wolf: Das Verhalten von Millionen von Agenten zu simulieren braucht Zeit, und die haben wir in einem Tagesworkshop nicht. Um dieses Problem zu lösen, kann man die Zahl der auszuwählenden Optionen klein halten und all ihre Kombinationen einfach vorher schon simulieren. Wenn man aber wirklich live sein will, muss man die Modelle vereinfachen. Ein Weg ist dabei, mit Methoden der sogenannten Moleküldynamik zu arbeiten und das Verhalten der Agenten durch Gleichungen anzunähern, die sich wesentlich schneller durchrechnen lassen. Dann kann man auch auf komplexe Kompromissvorschläge der Teilnehmenden flexibel reagieren, etwa wenn die vorschlagen, dass die Parkgebühr nicht verdreifacht, sondern nur verdoppelt wird, und dafür der Bus nur alle 15 statt 10 Minuten kommt.

Nagel: Der viel gescholtene Kompromiss ist nämlich in Wirklichkeit der Normalfall bei demokratischen Entscheidungen.

Wolf: Ja, im Idealfall sind unsere Workshops wissenschaftlich fundierte Kompromiss-Maschinen!

Frau Wolf, Herr Nagel, vielen Dank für das Gespräch!

Wozu lässt sich Mathematik noch anwenden? Hier sind weitere Beispiele →

Ungewöhnliche Wissenschaftskommunikation von MATH+: Der Comic "Ida und der Matheagent"