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Sarah Wolf: Für mich ist Agent ein neutrales Wort, so wie Tisch. Denn unsere Agenten sind mathematische Elemente beziehungsweise Objekte im Computer. Sie können ganz unterschiedliche Rollen einnehmen.
Kai Nagel: In der mathematischen Sprache ist Agent die Beschreibung einer handelnden Person, die einen inneren Zustand besitzt und bestimmten Verhaltensregeln folgt. Mit einer Vielzahl solcher Agenten können wir letztlich im Computer eine Gesellschaft simulieren, innerhalb bestimmter Grenzen natürlich.
Wolf: Ein Kollege erklärt das Schulklassen immer so: Die Schuhgröße und der Lieblingsfilm sind nicht wichtig, wenn es um Mobilität geht, aber Alter, Einkommen, Wohn- und Arbeitsort, Gesundheit und sogar politische Einstellungen.
Wolf: Ja, bei uns sind die Agentensimulationen mit einem Element der Bürger*innenbeteiligung verknüpft, beispielweise für Schulen. Der Fachausdruck dafür ist Transdisziplinarität, aber das Schlagwort „offenes Wissenslabor“ der BUA-Kampagne wäre auch sehr treffend.
Nagel: Wir veranstalten Workshops, in denen die Menschen politische oder administrative Entscheidungen selbst treffen und sich sofort danach durch unsere Simulationen die Auswirkungen dieser Entscheidungen anschauen können. Unser Thema ist dabei die Verkehrsplanung.
Ziel dieser Workshops kann es sein, Ideen zu bekommen, etwa für neue Maßnahmen. Ein anderes Ziel kann sein, den wirklichen politischen Entscheidungsträger*innen Pakete von Maßnahmen an die Hand zu geben, die eine große Mehrheit an Personen in unseren Workshops befürwortet haben.
Nagel: Ja, mein Fachgebiet an der TU Berlin simuliert das Mobilitätsverhalten der Menschen unter anderem anhand von anonymisierten Mobilfunkdaten mit Hilfe von Agentensystemen.
Während der Corona-Zeit konnten wir damit sehen, wie oft sich die Menschen treffen, wie sie öffentliche Verkehrsmittel nutzen und so weiter. Daraus haben wir sowohl die Ansteckungsraten abgeschätzt wie auch die wahrscheinlichen Auswirkungen von Corona-Schutzmaßnahmen.
In diesem Kontext haben wir mit dem MATSim-EpiSim-Modell, das epidemische Ausbrüche simulieren kann, eine interaktive Visualisierung für ein mögliches Ausbruchsszenario erstellt: einen 90 Tage-Zeitraffer, der den Wohnort der individuellen Bewohner und ihren Infektionsstatus im Zeitverlauf abbildet.
Wolf: Kai Nagel und ich verwenden etwas unterschiedliche Formate. Bei mir ist es das sogenannte Decision Theatre, das ursprünglich in den USA entwickelt wurde. Bei uns diskutieren 15 bis 30 Personen in Kleingruppen zehn verschiedene Optionen für eine Mobilitätswende in Deutschland. Rein politische Maßnahmen wie etwa Verbote, aber auch mögliche Investitionen sowie Einschätzungen über zukünftige Entwicklungen.
Konkret müssen sich die Teilnehmer*innen zum Beispiel entscheiden, machen wir den öffentlichen Nahverkehr preiswerter, oder investieren wir lieber in Ladestationen für Elektroautos. Und was denken wir: Werden die bald billiger? Können wir durch Digitalisierung leichter den öffentlichen Nahverkehr und Leihfahrzeuge kombinieren?
Die Gruppen müssen eine Auswahl treffen durch Beantwortung von Fragen auf einem Tablet. Dann betrachten wir die entsprechenden Ergebnisse unserer Agentensimulationen mit diesen unterschiedlichen Eingaben und können im Plenum die Auswirkungen diskutieren.
Wir werfen also einen Blick in verschiedene mögliche Zukünfte, die den Teilnehmenden teils überraschende Folgen ihrer Entscheidungen aufzeigen. Etwa wenn durch Zuschüsse für Elektroautos der öffentliche Nahverkehr nicht mehr genutzt wird, weil jetzt auch ökologisch bewusste Menschen sich ein Auto kaufen.
Wolf: Das wäre natürlich spannend. Ich muss aber betonen, dass wir nicht wie mit einer Glaskugel die Zukunft vorhersagen können. Bei den Diskussionen im Plenum geht es eher darum, dass die Menschen erkennen, dass die Dinge komplex miteinander zusammenhängen, es keine einfachen Lösungen gibt. Außerdem müssen alle ihre Argumente auf den Tisch legen, und oft wird dabei klar: Wir wollen eigentlich das Gleiche, haben aber verschiedene Vorstellungen, wie die Welt funktioniert.
Nagel: Wir führen sogenannte Bürger*innengutachten zu Transformationsszenarien von Mobilität durch. Der Ablauf ist ähnlich wie beim Decision Theatre, allerdings beschränken wir uns auf den Verkehr in der jeweiligen Region, können dafür aber genauere Simulationen durchführen. Zudem versuchen wir es so einzurichten, dass die Teilnehmenden ein breites Spektrum der Gesellschaft repräsentieren.
Nagel: Einerseits große Einigkeit. So unterstützen mehr als 90 Prozent der Teilnehmenden das Ziel eines nicht-fossilen Verkehrs bis 2045. Mehr als 80 Prozent sprechen sich auch für das Verursacherprinzip aus. Wenn es aber konkret um Maut oder teurere Anwohnerparkausweise geht, sinkt die Zustimmung auf unter 50 Prozent ab.
Nagel: Ein Ergebnis ist, dass der kommerzielle Verkehr auf technischem Wege CO2-frei gemacht werden kann, und dies auch gar nicht stark umstritten ist – hier könnte also schneller vorangegangen werden.
Kontrovers ist vor allem der Bereich des privaten Personenverkehrs. Hier finden sogenannte Pull-Maßnahmen wie der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs oder der Radwege breite Unterstützung, werden aber bei weitem nicht ausreichen, um den privaten Personenverkehr CO2-frei zu machen.
Falls „nur“ CO2-Freiheit erreicht werden soll, müssten zusätzlich die Antriebe der vielen verbleibenden Fahrzeuge dekarbonisiert werden; falls gleichzeitig die Anzahl der Autos im Stadtgebiet deutlich reduziert werden soll, kommen wir in allen Simulationsläufen um Push-Maßnahmen wie Verbote, Einschränkungen oder Verteuerungen nicht herum.
Wolf: Unsere Agenten möchten ihren Nutzen aus der Mobilitätswahl maximieren und betrachten dabei zum Beipiel die Faktoren Geld und Bequemlichkeit. Sie tauschen mit anderen Agenten Informationen über den Nutzen der verschiedenen Verkehrsmittel aus.
Nagel: Bei uns bekommt jeder Agent einen Tagesplan mit Zielen, die er erreichen möchte. Also zur Arbeit fahren, Einkaufen, abends ins Sportstudio oder sich mit Freunden treffen – wie bei richtigen Menschen. Diese Agenten werden dann auf virtuellen Stadtplänen platziert und bekommen jeweils Arbeitsorte und so weiter zugeordnet. Ihr Verkehrsmittel wählen sie nach Kriterien wie Zeitaufwand und Kosten, und auch die Verkehrsmittel selbst spielen eine aktive Rolle, so kann es zum Beispiel Staus im Modell geben, wenn zu viele Fahrzeuge auf einer Straße sind.
Nagel: Tatsächlich besteht Verkehrsplanung zu einem großen Teil aus empirischer Sozialforschung. Seit Jahrzehnten werden Daten zusammengetragen, es gibt Umfragen mit Zehntausenden von Menschen, Verkehrszählungen, Einwohner- und Firmenregister, psychologische Studien. Überprüfen können wir unsere Modelle dadurch, dass wir in ihrer synthetischen Welt die Voraussetzungen für bereits gut untersuchte Effekte schaffen und schauen, ob diese reproduziert werden.
Wolf: Das Verhalten von Millionen von Agenten zu simulieren braucht Zeit, und die haben wir in einem Tagesworkshop nicht. Um dieses Problem zu lösen, kann man die Zahl der auszuwählenden Optionen klein halten und all ihre Kombinationen einfach vorher schon simulieren. Wenn man aber wirklich live sein will, muss man die Modelle vereinfachen. Ein Weg ist dabei, mit Methoden der sogenannten Moleküldynamik zu arbeiten und das Verhalten der Agenten durch Gleichungen anzunähern, die sich wesentlich schneller durchrechnen lassen. Dann kann man auch auf komplexe Kompromissvorschläge der Teilnehmenden flexibel reagieren, etwa wenn die vorschlagen, dass die Parkgebühr nicht verdreifacht, sondern nur verdoppelt wird, und dafür der Bus nur alle 15 statt 10 Minuten kommt.
Nagel: Der viel gescholtene Kompromiss ist nämlich in Wirklichkeit der Normalfall bei demokratischen Entscheidungen.
Wolf: Ja, im Idealfall sind unsere Workshops wissenschaftlich fundierte Kompromiss-Maschinen!
Frau Wolf, Herr Nagel, vielen Dank für das Gespräch!
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