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Andrew James Johnston: Wir zeigen, wie Literatur über lange Zeiträume und verschiedene Kulturen hinweg Menschen, Institutionen, Gegenstände oder Strukturen zusammenbringt und dadurch neue Zusammenhänge schafft. Es gibt im Englischen das schöne Wort „Entanglement“, auf Deutsch würde man „Verflechtung“ sagen. Temporal Communities untersucht solche Verflechtungen: Uns interessiert, wie Dinge, Gedanken oder Werke aufeinandertreffen und sich daraus Neues ergibt.
Anne Eusterschulte: Natürlich schlagen auch künstlerische und literarische Auseinandersetzungsformen die Brücke zum Alltag! Aber wie wir uns mit Herausforderungen auseinandersetzen, unterscheidet sich von anderen Wissenschaften. Es geht darum, die Sensibilität für Probleme zu schärfen und zu zeigen: wir teilen diese Probleme, sie betreffen uns alle auf individuelle Weise. Und es geht darum, auch kollidierende Auffassungen und Thematisierungsweisen in verschiedenen Medien und Materialitäten miteinander zu konfrontieren und einen Austausch zu gestalten. Darin liegt die besondere Stärke von Literatur und Kunst.
Eusterschulte: Das Anthropozän, also dass wir in einer Zeit leben, in der der Mensch den Verlauf des Geokosmos – irreversibel – bestimmt, ist ein gigantisches Thema in Literatur und Kunst. Vor Kurzem habe ich zum Beispiel etwas über Klimaangst gelesen - wie kann man so ein Thema eigentlich fassen? Eine literarische Darstellung, in der Kinder aufwachen und Angst vor der Zukunft haben, weil sie dem Klimawandel nicht gewachsen sind, kann einem wissenschaftsfremden Publikum dieses Phänomen unglaublich nahebringen. Literatur kann so die Angst vor dem Morgen verstehbar machen und zeigen: Das ist gar nicht etwas, womit ich allein bin, sondern etwas, womit eine Fülle von Menschen ringt.
Johnston: Wir erkennen in der Art, wie Literatur beispielsweise Naturkatastrophen verarbeitet, die kulturellen Auswirkungen solcher Katastrophen: wie sehr sie menschliche Vorstellungswelten über ganz lange Zeiträume hinweg prägen können.
Ein Beispiel: Es gab um die Mitte des sechsten Jahrhunderts in rascher Folge große Vulkanausbrüche auf der Erde, wahrscheinlich weit weg von Europa, aber wir wissen nicht, wo. Gewaltige Mengen von vulkanischem Staub wurden in die Atmosphäre geschossen und haben den Himmel auch in Europa für lange Zeit verdunkelt. Das hatte gravierende Auswirkungen, unter anderem auf die religiösen Vorstellungen. In der altgermanischen Religion wird von „Götterdämmerung“ gesprochen. Das ist nicht einfach eine Metapher, sondern die poetische Umsetzung der Erfahrung, dass es lange Zeit nicht richtig hell wurde, dass Kälte und Hunger herrschten! In literarischen Werken, die sich an diese Zeit erinnern, werden auch immer wieder Dinge mit dem Schmelzen von Eis verglichen: Hier ist das Schmelzen von Eis im Gegensatz zu heute – Stichwort: Klimawandel - ein Hoffnungsschimmer, weil man weiß, die Kälte kommt an ein Ende. In der zeitgenössischen erfolgreichen Buch- bzw. TV-Serie „Game of Thrones“ fürchten sich die Figuren vor Wintern, die jahrzehntelang anhalten, auch hier wird mit der Thematik gespielt.
Wir erkennen also eine direkte, vielperspektivische Kommunikation zwischen Problemen der Gegenwart einerseits und zwischen historischen Arten, vergleichbare Probleme zu verhandeln. Letztere schlagen sich auch in der Populärliteratur nieder, und damit in kulturellen Produkten, die ein ganz breites Publikum erreichen.
Eusterschulte: Entscheidend ist das reichhaltige Studieren von Texten, von Theorien über Texte, und die Auseinandersetzung mit der Medialität dieser Texte, also dem, was diese Texte über Denkansätze und Weltauffassungen vermitteln.
Stellen Sie sich vor, wir sind dabei, einen Aufsatz zu schreiben zu einer Frage, die uns interessiert. Dafür tragen wir den neuesten Stand an Forschungsliteratur zusammen und formulieren dann eine eigene Lesart, ein eigenes Verständnis aus.
Vielleicht organisiert dann jemand einen Workshop mit Kolleg*innen aus verschiedenen Fachgebieten. Wir hatten kürzlich zum Beispiel eine Veranstaltung, auf der unterschiedliche Perspektiven auf Anonymität diskutiert wurden, also etwa zur Frage, was Anonymität bedeuten kann. Dann geht man auseinander, nimmt das Gehörte mit und fängt an zu schreiben. Die Ergebnisse werden dann zum Beispiel als Themenband publiziert. Zum akademischen Tag gehört, sofern möglich, auch in Ausstellungen zu gehen, Musik zu hören, also medienübergreifend zu denken.
Johnston: Bei unserer Arbeit ist Kommunikation zentral, das miteinander Reden. Das geschieht auf informeller Basis in einer Raucherpause, aber auch auf Konferenzen oder per Email. Um über Fächer und Disziplinen hinweg arbeiten zu können, wie wir es bei Temporal Communities tun, müssen wir uns darüber verständigen, wovon wir eigentlich reden. Denn die gleichen Wörter können in zwei Fächern oder in zwei Sprachen Unterschiedliches bedeuten.
Andrew James Johnston: Das Projekt Multiple Modernities trifft den Kern dessen, was wir bei Temporal Communities machen. Die gängige Vorstellung von Literatur basiert auf Kategorien wie Werken, Autor*innen und Rezipient*innen. Das ist alles extrem westlich, extrem europäisch, und extrem aus einer Position der Moderne heraus gedacht.
Anne Eusterschulte: Dem Konzept der Moderne liegt dem gängigen Verständnis nach ein westlich geprägtes Modell von zivilisatorischem Fortschritt zugrunde. Aber: Ist es überhaupt gerechtfertigt, ausgehend von diesem Moderne-Begriff in anderen Kulturen nach einer "Moderne" zu suchen? Oder ist das ein Kategorienfehler, also ein Fehler, der darin besteht, dass man einen Gegenstand in einer Perspektive betrachtet, die ihn ‚westlichen‘ Kriterien unterwirft und damit den Blick für die Phänomene in ihrer kulturellen wie geschichtlichen Eigenart eher verstellt?
Das ist eine wichtige Fragestellung. Denn selbstverständlich wollen wir uns öffnen für Weltzugänge anderer Kulturen und Traditionen. Deshalb laden wir bei Temporal Communities Künstler*innen und Literat*innen aus verschiedensten Fächerkulturen und aus anderen kulturellen Kontexten ein, um von ihnen zu lernen. Um in Austausch zu gehen und ein Korrektiv zu haben.
Johnston: Wir haben das Glück, in Berlin auf ganz unterschiedlichen Ebenen einen erstaunlichen kulturellen Reichtum zu haben. 70 Prozent aller deutschen Schriftsteller*innen leben in Berlin. Man hat hier eine Dichte von wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen wie Bibliotheken, Museen, oder außeruniversitären Forschungsinstituten. In diesem Umfeld findet man immer wieder Gesprächspartner*innen für ganz unterschiedliche Themen und Projekte. Und: Die Leute kommen gern nach Berlin. Bei ausländischen Partnern gibt es immer großes Interesse. Nicht nur, weil wir mit unserem Cluster hier sind, sondern weil sie sich in Berlin auch von ganz anderen Aspekten inspirieren lassen können.
Eusterschulte: Unsere Stadt spiegelt gewissermaßen den ganzen Reichtum, aber auch die Schwierigkeiten des Zusammenlebens vieler verschiedener Kulturen mit unterschiedlichen Geschichten, Schicksalen und Biografien wider.
Johnston: Die Vielfalt Berlins, beispielsweise die Tatsache, dass wir in den Grundschulen hier oft mehr Kinder mit Migrationshintergrund haben als ohne, führt dazu, dass wir uns ganz anders mit Fragen der kulturellen Übersetzbarkeit auseinandersetzen müssen. Etwa mit der Frage: Ist Literatur ein Instrument, das Menschen auch ausschließt? Dafür müssen wir über die Grenzen der Wissenschaft hinaus mit dieser Stadt ins Gespräch kommen.
Deswegen betreiben wir sehr intensiv Wissenschaftskommunikation und wollen sie noch weiter ausbauen, zum Beispiel mit literarischen und künstlerischen Initiativen in Schulen. Wir möchten auch Gesprächspartner*innen gewinnen, die normalerweise nicht an uns interessiert wären. Dieses Gespräch sehen wir schon als einen ersten Schritt in diese Richtung, insofern: Vielen Dank!
Frau Eusterschulte, Herr Johnston, danke für das Gespräch!