Frau Börzel, Sie forschen zum Thema Wissenschaftsfreiheit. Warum ist die so wichtig für eine liberale Gesellschaft?
Börzel: Die Idee des kritischen Individuums ist zentral für den Liberalismus, denken Sie an die Aufklärung, also die Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit: Wissenschaft stärkt die Fähigkeit zum kritischen Hinterfragen, das eine wichtige Grundlage für individuelle Selbstbestimmung bildet. Dazu muss die Wissenschaft frei sein, denn verengt man von vornherein die Perspektive auf das, was Politik und Gesellschaft hilfreich und akzeptabel finden, schränkt das die Fähigkeit zum kritischen Denken und zur Reflexion massiv ein. Für illiberale Regime ist Wissenschaftsfreiheit eine Bedrohung, weil sie scheinbar Gegebenes kritisch hinterfragt und Menschen dazu befähigt und anhält, kritisch zu hinterfragen.
Wissenschaftsfreiheit spielt nicht nur für die individuelle, sondern auch für die kollektive Selbstbestimmung eine entscheidende Rolle: In einer liberalen Gesellschaft gibt es unterschiedliche, teils gegensätzliche Interessen, die über den Austausch von wissensbasierten Argumenten zu einem Ausgleich gelangen. Die Wissenschaft ist damit essentiell für eine demokratische Streitkultur. Aber auch diese können wir nur stärken, wenn die Wissenschaft frei ist.
Was haben Sie konkret erforscht?
Börzel: Wir haben Wissenschaftsfreiheit als Norm und Teil eines globalen liberalen Skripts untersucht. Gibt es ein spezifisch liberales Verständnis von Wissenschaftsfreiheit, das weltweit geteilt wird? Ausgangspunkt unserer Forschung ist, dass das anfangs beschriebene Spannungsverhältnis zwischen individueller und kollektiver Selbstbestimmung auch die Auseinandersetzungen um die Wissenschaftsfreiheit prägt.
In westlichen Demokratien lag der Fokus lange auf der individuellen Freiheit der Wissenschaftler*innen in ihrer Forschung und Lehre. Nach Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes sind Forschung und Lehre frei, doch diese Freiheit unterliegt gewissen Grenzen, die kollektiv festgelegt werden. Zugleich darf die Wissenschaft als institutionalisiertes System selbst entscheiden, wie sie forscht und lehrt, also ohne Eingriffe von außen, etwa durch den Staat. Als kollektive Dimension der Wissenschaftsfreiheit gewinnt die Unabhängigkeit wissenschaftlicher Institutionen zunehmend an Bedeutung angesichts politischer Versuche, den Inhalt von Forschung und Lehre zu bestimmen – etwa in den USA, wo öffentliche Universitäten gezwungen werden, ihr Engagement für Diversität und Inklusion einzuschränken und Gender Studies Programme einzustellen.