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Millionen von Minicomputern im Kopf

Im Exzellenzcluster NeuroCure erforscht Matthew Larkum, wie unser Gehirn funktioniert

Das menschliche Gehirn ist ein wahres Wunderwerk der Natur. Es besteht aus Milliarden von Nervenzellen, die in einem faszinierenden Zusammenspiel Informationen verarbeiten, weiterleiten und speichern. Doch wie genau funktioniert dieser biologische Supercomputer in unserem Kopf? Wie entscheiden die einzelnen Zellen, welche Informationen sie wohin weiterleiten?

Im Exzellenzcluster NeuroCure arbeiten Forschende verschiedener Disziplinen daran, diese Geheimnisse zu lüften. Mit innovativen Forschungsmethoden können sie etwa die Aktivität und Kommunikation von einzelnen Nervenzellen in der Großhirnrinde präzise messen. Ihre Ergebnisse tragen dazu bei, das Gehirn besser zu verstehen und liefern Grundlagen für neue Diagnose- und Therapiemöglichkeiten von neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen.

Prof. Ph.D. Matthew Larkum, Neurowissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin, erforscht im Exzellenzcluster NeuroCure diese Fragen gemeinsam mit interdisziplinären Teams, in denen die klinische Forschung der Charité und die Grundlagenforschung der Universität eng miteinander verzahnt sind. Im Interview erklärt er, warum diese Kooperation ihm außergewöhnliches Probenmaterial verschafft und sein Team manchmal 48 Stunden am Stück im Labor steht.


Gerät für die Multipatch-Analyse der Aktivität von bis zu acht Nervenzellen. © Jannis Keil

Gerät für die Multipatch-Analyse der Aktivität von bis zu acht Nervenzellen. © Jannis Keil

Herr Larkum, Sie sitzen mit dem Exzellenzcluster NeuroCure in einem beeindruckenden Forschungsgebäude an der Charité – dem Charité CrossOver. Hier gibt es sehr kompliziert aussehende Geräte, unter anderem das Mikroskop vom Kampagnenmotiv, das an einen Roboterkraken mit acht Armen erinnert. Was genau passiert in den Forschungslaboren damit?

Das Gerät heißt Octapatch und hat tatsächlich acht Arme, an denen jeweils eine winzige Pipette angebracht ist. Damit untersuchen verschiedene Forschungsteams an der Charité und aus dem Exzellenzcluster NeuroCure lebendes Gehirngewebe in der Petrischale unter dem Mikroskop. Mit den Spitzen der sehr feinen Pipetten docken wir an einzelne Nervenzellen an und messen deren Aktivität. Weil wir acht Pipetten haben, können wir acht Zellen gleichzeitig untersuchen und so feststellen, welche der Zellen direkt miteinander verbunden sind, wie sie untereinander kommunizieren und wie sie sich beeinflussen.

Diese Technik nennt sich „Patch-Clamp-Methode“ und ist der Goldstandard zur Messung von elektrischen Aktivitäten innerhalb von Nervenzellen. „Patch“ steht dabei für einen Ausschnitt der Zellmembran, „clamp“ für „befestigen“. Durch einen Unterdruck wird ein Stück der Zellmembran in die Pipette eingesaugt. So können wir elektrochemische Signale, die die Zellen über spezielle Öffnungen in der Zellmembran weiterleiten, sehr genau messen und auch Aktivitäten stimulieren.

Warum schauen Sie sich diese Zellen und ihre Verbindungen so genau an?

Eines der wichtigsten und schwierigsten Ziele der heutigen Neurowissenschaften ist es herauszufinden, wie die einzelnen Neuronen – also die Nervenzellen im Gehirn – miteinander verbunden sind. Denn nur so können wir verstehen, wie das Gehirn funktioniert. Neuronen besitzen einen Zellkörper und zahlreiche, fein verästelte Fortsätze – die Axone und Dendriten. Mithilfe der Axone, die sich mit den Dendriten verbinden, kommunizieren die Zellen miteinander. So verarbeitet das Gehirn Reize und Informationen.

Neuronen in der menschlichen Großhirnrinde © Imre Vida

Neuronen in der menschlichen Großhirnrinde © Imre Vida

Uns interessiert, welche spezifischen Informationen sich diese Zellen gegenseitig zusenden. Jede einzelne ist quasi ein kleiner Minicomputer, der mit bis zu 10 000 weiteren Nervenzellen verbunden ist. Wir wollen herausfinden, nach welchen Regeln und Gesetzen die einströmenden Informationen verarbeitet und weitergeleitet werden. Wir beginnen zwar zu verstehen, wie die Milliarden von Neuronen im Gehirn feuern, wissen aber dennoch sehr wenig darüber, was sie sich eigentlich gegenseitig mitteilen. Das ist die wahre Terra Incognita der modernen Neurowissenschaft.

Wie funktioniert diese Informationsverarbeitung?

Dahinter steckt ein sehr komplexer Prozess, in dem jede einzelne Zelle entscheiden muss, wie sie die vielen eingehenden Informationen in die Ausgangssignale umwandelt, die sie weitergibt. An diesen Rechenfähigkeiten der einzelnen Neuronen habe ich ein ganz besonderes Interesse, denn sie bestimmen die Eigenschaften des gesamten großen Netzwerks der Nervenzellen.

Die sogenannten Pyramidneuronen in unserer Großhirnrinde haben besonders faszinierende Fähigkeiten. Wenn man die Rechenleistung dieser Zellen mit einem künstlichen neuronalen Netzwerk nachbilden würde, bräuchte man ein siebenschichtiges tiefes neuronales Netzwerk mit Tausenden Neuronen, um die Leistung von nur einer dieser Zellen abzubilden. In unserem Gehirn haben wir ungefähr zehn Milliarden dieser Superzellen.

Wenn Sie mein Gehirn mit dem Octapatch jetzt gerade messen würden – was würden Sie sehen?

Dafür bräuchten wir zunächst einmal ein kleines Stück Ihres Gehirns. Wir haben das Glück, das wir eng mit der klinischen Forschung und den Ärzt*innen der Charité zusammenarbeiten. Hier werden auch Epilepsie-Patient*innen behandelt, denen manchmal etwas Gehirngewebe operativ entfernt werden muss. Wenn die Patient*innen einverstanden sind und die Ethikkommission der Charité grünes Licht gegeben hat, dürfen wir dieses Gewebe für unsere Forschung nutzen.

Im Gehirn sind Millionen von Neuronen gleichzeitig aktiv. Diejenigen herauszufinden, die direkt miteinander verbunden sind, kann der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleichen. Aber wenn wir mehrere Zellen gleichzeitig messen – wie mit dem Octapatch – ist die Chance sehr hoch, dass wir viele Verbindungen zwischen einzelnen Neuronen finden.

Darstellung von Fasertrakten, die durch Stimulation des subthalamischen Kerns i.R. tiefer Hirnstimulation zur Behandlung von Parkinson moduliert werden. ©  Dr. med. Andreas Horn

Darstellung von Fasertrakten, die durch Stimulation des subthalamischen Kerns i.R. tiefer Hirnstimulation zur Behandlung von Parkinson moduliert werden. © Dr. med. Andreas Horn

Wie können Sie diese Verbindungen sehen?

Wenn wir die Aktivitäten dieser Zellen messen, erhalten wir Signale, die auf dem Computermonitor sichtbar werden. Das ist beispielsweise mit den Kurven, Wellen und Zacken eines Elektrokardiogramms (EKG) vergleichbar. Nur dass wir nicht die Aktivität der Herzmuskelfasern, sondern die Aktivität innerhalb von Neuronen erfassen. Wir würden auf unserem Monitor also acht dieser Linien sehen – für jede Nervenzelle eine. Aus den Mustern könnten wir erkennen, welche dieser Zellen miteinander in Verbindung stehen.

Diese Kommunikation der Zellen live zu sehen, ist tatsächlich unheimlich faszinierend und hat mich von Anfang an begeistert. Wenn wir aus diesem Gespräch herausgehen und Sie vielleicht einige neue Dinge gelernt haben, dann haben sich einige Verbindungen zwischen Ihren Nervenzellen verändert. Mit der Patch-Clamp-Methode können wir diese Veränderungen leichter entdecken und beschreiben.

Sie arbeiten also mit lebendem Gewebe. Wie funktioniert das in der Praxis?

Das Ärzteteam informiert uns im Vorfeld, wann bei einer Operation Gehirngewebe entnommen wird, damit wir uns im Labor darauf vorbereiten können. Sofort nach der Operation werden die Gewebeproben in eine Nährlösung gelegt, die ähnlich zusammengesetzt ist wie die Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit im menschlichen Körper. Die Proben kommen direkt zu uns, werden heruntergekühlt und für unsere Experimente wieder auf Körpertemperatur erwärmt. Menschliches Gewebe können wir so bis zu 48 Stunden am Leben erhalten.

Es ist für uns ein großes Glück, dass wir diese Gewebeproben erhalten und nutzen dürfen. Diese Art von Forschung ist nur durch die enge Zusammenarbeit von verschiedenen Ärzte- und Forschungsteams hier bei NeuroCure möglich.

Sobald wir die Proben haben, führen wir so viele Experimente wie möglich durch. An diesen Tagen sind Nachtschichten im Labor angesagt. Denn wir haben eben nur 48 Stunden Zeit und wechseln uns deshalb schichtweise im Team ab.

Matthew Larkum, Professor an der HU Berlin und Forscher im Exzellenzcluster NeuroCure, im Labor  ©  Jannis Keil

Matthew Larkum, Professor an der HU Berlin und Forscher im Exzellenzcluster NeuroCure, im Labor © Jannis Keil

Sie nutzen für Ihre Forschung nicht nur die Patch-Clamp-Methode, sondern entwickeln auch eigene innovative Verfahren. Welche sind das?

Eine ist beispielsweise die Optogenetik – entwickelt vom NeuroCure-Professor Peter Hegemann. Das ist eine Kombination von optischen Techniken und genetischer Manipulation von Neuronen. Mit Optogenetik können wir das Genom von Nervenzellen so verändern, dass sie durch Licht gezielt aktiviert werden oder selbst Licht bei bestimmten Aktivitäten abgeben. Manchmal geschieht das mithilfe von Viren, um die genetischen Informationen zu übertragen. Damit haben wir unglaubliche neue Möglichkeiten, weil wir Aktivitäten von Nervenzellen sichtbar machen und Nervenzellen ganz gezielt an- und ausschalten können.

Um klinische Forschung dazu an menschlichen Gewebeproben zu ermöglichen, arbeiten wir derzeit mit mehreren Laborteams gemeinsam an speziellen Viren. Diese können Nervenzellen in sehr kurzer Zeit manipulieren, so dass sie bereits nach einigen Stunden lichtempfindlich sind. Diese neue Technik ist eine Revolution, mit der viele grundlegende Fragen beantwortet und künftig ganz neue Diagnostik und sogar Therapien ermöglicht werden. Vielleicht können wir in wenigen Jahrzehnten schon Erkrankungen wie etwa Parkinson behandeln, indem wir mithilfe dieser Methode ganz bestimmte Nervenzellen stimulieren.

Die Forschungsteams von NeuroCure haben grundlegende neurowissenschaftliche Fragen genauso im Blick wie praxisnahe, angewandte Themen aus der klinischen Forschung. Wie funktioniert die Zusammenarbeit?

Die Lösung komplexer Probleme beginnt mit der Grundlagenforschung. Uns geht es darum, das Gehirn insgesamt besser zu verstehen. Um Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung schnell in die Anwendung zu bringen, benötigen wie gute Kommunikationswege, Forschungskooperationen und Netzwerke.

Und genau das machen wir hier bei NeuroCure: Viele ganz unterschiedliche Menschen aus den Neurowissenschaften, der Biochemie, der Informatik, der Neurologie oder der Neurochirurgie arbeiten an verschiedenen Fragen, haben aber gemeinsame Schnittmengen. Denken Sie nur an die Gewebeproben, die innerhalb von Minuten direkt aus dem Operationssaal in unser Labor kommen: Das ist nur möglich, wenn die verschiedenen Teams ganz eng zusammenarbeiten. Am Ende geht es darum, die richtigen Leute mit den richtigen Fragen am richtigen Ort zusammenzubringen, damit sie gemeinsam neue Ideen und Lösungen entwickeln.

Herr Larkum, danke für das Gespräch!

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